Es ist der nächste Paukenschlag im Dieselskandal der Volkswagen AG. Der frühere VW-Chef Martin Winterkorn muss sich wegen des Abgasskandals vor Gericht in einem öffentlichen Strafverfahren verantworten. Es bestehe ein hinreichender Tatverdacht „wegen gewerbs- und bandenmäßigen Betrugs“, teilte das Landgericht Braunschweig mit. Wann der Prozess beginnt, ist noch offen. Die Ermittler hatten den heute 73-jährigen Manager im April 2019 aufgrund seiner Rolle im Dieselskandal angeklagt. Es geht um den Vorwurf des schweren Betrugs und des Verstoßes gegen das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb im Zusammenhang mit Manipulationen an den Abgaswerten von Millionen Fahrzeugen.
Mit den Worten „Ich bin bestürzt über das, was in den vergangenen Tagen geschehen ist. Vor allem bin ich fassungslos, dass Verfehlungen dieser Tragweite im Volkswagen-Konzern möglich waren“ war Martin Winterkorn am 23. September 2015 von seinem Amt als Vorstandsvorsitzender von Volkswagen zurückgetreten und reagierte damit auf das Bekanntwerden des Dieselskandals wenige Tage zuvor. Er übernehme die Verantwortung im Interesse des Unternehmens, „obwohl ich mir keines Fehlverhaltens bewusst bin“, betonte Winterkorn damals. Mit Winterkorn auf die Anklagebank müssen auch Heinz-Jakob Neußer, der frühere Entwicklungsvorstand der Marke VW, sowie weitere Führungskräfte.
Im äußersten Fall drohen den Angeklagten Gefängnisstrafen von bis zu zehn Jahren. Bei dem von der Staatsanwaltschaft erhobenen Vorwurf der Kfz-Steuerhinterziehung vermuten die Richter einen besonders schweren Fall, weil der Schaden sich auf bis zu 820.000 Euro belaufen könne. Besonders interessant ist, dass die Richter einen hinreichenden Tatverdacht sehen, dass Winterkorn und weitere Manager sich dafür gewerbsmäßig zu einer Bande zusammengeschlossen haben.
Am 22. September 2015 hatte die Volkswagen AG in einer Ad-hoc-Mitteilung bekannt gegeben, dass in den millionenfach verbauten Motoren EA189 eine Software zur Prüfstandserkennung verbaut worden ist – also zur Abgasmanipulation. Auf dem Prüfstand wurden dadurch die Grenzwerte für Stickoxid eingehalten, im normalen Straßenverkehr allerdings nicht. Am 15. Oktober 2015 erließ das Kraftfahrt-Bundesamt daraufhin einen Rückruf und ging vom Vorliegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung aus. Fahrzeuge mit EA189-Motoren mussten mit einem Software-Update nachgerüstet werden. Das Problem: Das Software-Update behob den Schaden aber nicht, sondern sorgte sogar für weitere Schwierigkeiten, beispielsweise einen höheren Kraftstoffverbrauch. In der Folge setzte dann eine Welle von Betrugshaftungsklagen auf Schadensersatz gegen Volkswagen und andere Hersteller wegen der Abgasmanipulation ein.
Nach Millionen von Dieselfahrzeugen der Abgasnorm Euro 5 mit dem Dieselmotorentyp EA189 steht mittlerweile auch der Volkswagen-Nachfolgeantrieb des Typs EA288, der seit 2015 als Euro 6-Diesel in so gut wie allen Baureihen genutzt wird, im Fokus des Diesel-Abgasskandals. Die als vermeintlich saubere Dieselmodelle deklarierten Fahrzeuge verfügen demnach ebenfalls über eine sittenwidrige Zykluserkennung. Im EA288 sind unter anderem zudem auch sogenannte Thermofenster verbaut, die der Europäische Gerichtshof in Luxemburg am 30. April 2020 in einem Gutachten als temperaturabhängige Abschalteinrichtung als eindeutig unzulässig eingestuft hat. Die Einschätzung der EU-Generalanwältin Eleanor Sharpston, dass Abschalteinrichtungen grundsätzlich unzulässig sind, wenn sie dazu führen, dass die Grenzwerte beim Emissionsausstoß nicht eingehalten werden, hat weitreichende Auswirkungen und betrifft nicht nur Fahrzeuge mit dem Dieselmotor des Typs EA189, sondern eben auch Modelle mit dem VW-Nachfolgemotor EA288.